Wir feiern den Maskenball! Denn wer braucht schon Authentizität?

Haben wir als Kind nicht alle Märchen geliebt? Das von Aschenputtel zum Beispiel, die sich auf den königlichen Ball schleicht und dafür herausgeputzt wird. Nach Mitternacht verwandelt sich der Schein dann wieder in ihr wahres Sein und am Ende erkennt der Prinz sie nur daran, dass ihr der verlorene Schuh passt. Was das Ganze mit Authentizität zu tun hat? Nun, Aschenputtel war nicht authentisch, sondern spielte eine Rolle – und hat damit alle belogen. Die romantische Darstellung vom schönen Schein ist auch in unserer Welt gang und gäbe.

Warum sprechen wir so oft von der nackten oder ungeschminkten Wahrheit, die nichts übriglässt als den Kern? Wir sind schonungslos ehrlich, auch wenn es unangenehm ist. Und wenn die Hüllen fallen, bleibt nichts zurück als der Mensch selbst. Klingt so gar nicht danach, als ob wir das wirklich wollen, oder? Niemand möchte gern hinters Licht geführt werden. Dabei gehört es doch heute zum guten Ton, die Wahrheit – die Authentizität – ein bisschen zu „strecken“. Social Media macht es uns jeden Tag vor. Und nein, ich spreche hier nicht von den offensichtlich stark bearbeiteten Urlaubsbildern oder zahlreichen Filtern, die sich inzwischen leicht entlarven lassen. Da ist es uns bewusst, dass wirklich nur noch ein Körnchen der Wahrheit übrig geblieben ist.

Doch irgendwo sind wir doch von all der Selbstdarstellung beeindruckt. Schließlich sagte schon Goethes Lebemann Torquato Tasso im Brustton der Überzeugung: „Erlaubt ist, was gefällt.“ Daraufhin wird er von der Prinzessin scharfsinnig zurechtgewiesen „Erlaubt ist, was sich ziemt.“ Heute gilt das Aschenputtel-Prinzip „Erlaubt ist, was blendet und beeindruckt.“ Ob Hundefutter, Toilettenschüssel oder Deodorant für die Füße – alles wird von Unternehmen als beeindrucktes Wunderprodukt angepriesen und wenn noch dazu eine berühmte Stimme, die wir aus Film und Fernsehen kennen, sagt, dass es nur heute 20 % Rabatt gibt – na, wer würde da nicht zuschlagen? Das hat zwar überhaupt nichts mehr mit Authentizität zu tun, doch wir fallen regelmäßig auf den schönen Schein herein, hinter dem sich die eigentlichen Produkte verstecken. Und die Unternehmen sprechen dann von gelungenem Marketing. Mit Entsetzen findet sich das heute teilweise auch bereits in den als professionell dargestellten beruflichen Netzwerken.

Was ist schon authentisch

Authentizität war und ist ein schwammiger Begriff, denn die Linie zwischen Schein und Sein ist so verschwommen wie breit. Wäre es nicht authentisch, mit einer Jogginghose oder dem Blaumann zum ersten Date zu gehen, anstatt sich in Aschenputtelmanier herauszuputzen? Ist es authentisch, den Mercedes und den Karibikurlaub abzustottern, obwohl das Geld nicht reicht, nur um zu beeindrucken? Ist es authentisch, dass ein Luxushotel mit Palmen, Pool und exquisitem Essen wirbt, obwohl die Menschen in diesem Land in absoluter Armut leben? Jeder mischt sich heute seine eigene Authentizität zusammen: Anstatt allerdings nur eine Prise Salz zu verwenden, werden heute ganze Menüs neu gekocht, die uns ins beste Licht rücken.

Das Internet ist voll davon, Coaches pfeifen es lautstark von den Dächern und zahlreiche Bücher predigen es: Authentizität ist der Weg zum wahren Ich. Halt – jetzt mal ehrlich: Wer trägt nicht gern eine Maske oder Make-up, um die eigene Identität aufzuwerten? Der Mitarbeitende wird in der Gehaltsverhandlung seine Leistung besser darstellen, als sie vielleicht ist. Der Staubsaugervertreter redet Ihnen nach dem Mund und die Tupperdosenverkäuferin schwärmt für die kleinen Plastikdosen, obwohl sie selbst – der Gesundheit wegen – nur Aufbewahrungsboxen aus Glas zuhause hat, was natürlich niemand weiß. Es geht also nicht ums authentisch sein, sondern lediglich darum, authentisch zu wirken. 

Können Sie es sich leisten?

Nur wer es sich leisten kann, auf niemanden Rücksicht zu nehmen, kann es sich auch leisten, authentisch zu sein. Lesen Sie den Satz gern noch einmal. Echte Authentizität funktioniert streng genommen nur mit 100 % Echtheit. Können Sie von sich behaupten, dass Sie immer und überall Ihren wahren Gefühlen und Ihrer Spontanität freien Lauf lassen? Oder halten Sie nicht doch etwas zurück, wenn zum Beispiel der Chef den Choleriker auspackt und sie vor versammelter Mannschaft gnadenlos zusammenstaucht? Geben Sie Ihre Schwächen vor den Kolleginnen und Kollegen zu, sagen Sie ehrlich, was sie nicht können, oder wird es nicht doch schöner verpackt wie das Fußdeodorant in der Werbung? Sie sind begeistert von der Authentizität des Verehrers Ihrer Tochter, der schon an der Haustür seine wahren Absichten offenbart?

Authentizität gibt es nur im Paket mit Verletzlichkeit

Wer das Echte fordert, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit verlangt, sollte auf jeden Fall hart im Nehmen sein. Ob jemand so ist, wie er ist, oder nur eine selbst gewählte Rolle spielt, interessiert uns erst einmal nicht. Hauptsache, das Bild, das uns geboten wird, gefällt uns. Wir fordern zwar immer leidenschaftlich die Originale, sei es bei den Marken-Süßigkeiten oder Menschen, kommen jedoch auch hervorragend mit den Kopien zurecht: Blindverkostungen zeigen, dass wir oft nicht zwischen Snickers und der Discountervariante unterscheiden können und wenn Max Giermann als Klaus Kinski die Welt um sich herum bis aufs Blut beschimpft und beleidigt, sind wir begeistert.

„Sei du selbst“ scheint offen gestanden ein mehr als schlechter Rat. Denn mit diesen Worten wäre die Bereitschaft gefordert, seine verwundbarsten Stellen schonungslos und dauerhaft offenzulegen. Und es gibt immer jemanden, der die Gelegenheit der Blöße beim Schopf packt und den Finger in unsere Achillesferse drückt. Geben wir es doch offen zu: Wenn wir bei einem Menschen die Authentizität preisen, meinen wir ausnahmslos seine sichtbaren Schokoladenseiten. Über den Rest der Personenbeschreibung wird großzügig der Mantel des Schweigens ausgebreitet, worunter auch die Ignoranz perfekt Platz findet. Deshalb arbeitet jeder an seiner besten Version: Das Ich als makelloses Konstrukt dessen, was wir darstellen möchten. Dieses Ich definiert sich über den sozialen und psychologischen Kontext, über unsere Lebenswelt. Wir möchten, dass unsere Welt uns ganz genau so sieht, wie wir uns selbst sehen möchten. Wir sind draußen selten wir selbst, sondern formen uns ein Bild unseres Lieblings-Ichs, das wir dann mit allen Mitteln und bei jeder sich bietenden Gelegenheit präsentieren.

Identität braucht eine große Portion Individualität. Und deshalb sind wir auch so überrascht, erschrocken und enttäuscht, wenn uns jemand sein wahres Gesicht zeigt oder dieses von dritter Seite entlarvt wird. Der Siegeszug der Social-Media-Kanäle als moderne Märchen ist da nur eine logische Konsequenz, denn wir lieben die Empörung, die wir dann gnadenlos auf allen Kanälen teilen.

Am Ende sollte sich jede und jeder Einzelne von uns nur eine Frage ehrlich beantworten: Habe ich wirklich authentisch zu sein, um mir selbst treu sein zu können? Vertrauen wir auch an dieser Stelle der bewährten Gedankenkraft des Aristoteles, der bereits vor 2.300 Jahren erkannt hat: „Sich selbst zu kennen ist der Anfang aller Weisheit.“

Weitere Anregungen und Impulse zu diesem und weiteren Themen gibt es auch in meinem Buch „Fakten brauchen Hirn: 5 Sterne für Leader.“ Lesen Sie gerne rein.