Wie, Sie haben einen Fehler gemacht? Es sollte doch perfekt werden!

Der Eingriff am offenen Herzen ist ein besonderer Moment im Leben des Menschen, der auf dem OP-Tisch liegt. Und dessen, der da dran steht. Präzision ist gefragt. Akkuratesse. Excellenz.
Die Klinik hat einen über die Landesgrenze hinaus gehenden sehr guten Ruf und die Chirurgin gehört zur Elite in ganz Europa. Ja, sie gehört zu den renommiertesten und jedes kranke Herz ist bei ihr in den allerbesten Händen. Als sie an den OP-Tisch tritt, liegen auch heute wieder alle Hoffnungen auf ihr. Das Team im OP-Saal ist eingespielt, sie schaut noch einmal in die Runde, nickt allen einmal zu. Dann setzt sie den ersten Schnitt, die nächsten Stunden sind entscheidend. Wie immer gibt sie alles, denn sie widmet ihr Leben ihrer Berufung, der Herzchirurgie.

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Doch denken wir bitte daran: Diese Chirurgin ist ein Mensch. Und Menschen machen mitunter Fehler. Und auch, wenn es Unternehmenskulturen gibt, in denen Fehler erwünscht sind, um die Weiterentwicklung voranzutreiben – so gibt es Handwerke, bei denen sich ein Fehler nicht korrigieren lässt und Leben kosten kann.

Den Angehörigen im Warteraum vor dem OP-Saal steht die Angst ins Gesicht geschrieben. „Bitte machen Sie keinen Fehler“, flüstert die innere Stimme und möchte das am liebsten laut rausschreien.

Der Tag soll perfekt werden – und dann …

Alles war perfekt vorbereitet. Seit knapp einem Jahr hat sich das Paar auf diesen einen so besonderen Tag vorbereitet. Ja, für manche ist der Hochzeitstag der schönste Tag im Leben. Zugegeben, für mich eine erschreckende Vorstellung, dass es von da an auf der Skala nach unten offen, doch nach oben das Limit bereits erreicht ist. Von der ersten Begegnung bis zum heutigen Tag ist mir das Brautpaar in gewisser Weise ans Herz gewachsen. Ja, die beiden sind eines von vielen verliebten Pärchen, die sich in diesem Jahr das Ja-Wort geben, doch je intensiver ein aufeinander einlassen, ein einander vertrauen ist, umso bedeutsamer wird dieser Tag. Für beide Seiten. Es soll schließlich perfekt werden. Kein Fehler unterlaufen. Die Choreografie steht. Der Tag nimmt seinen Lauf, die Trauung, der Empfang, das Kaffeetrinken mit Hochzeitstortenanschnitt, alles klappt wie am Schnürchen. Jetzt noch das Hochzeits-Dinner. Die Vorspeise ist serviert und der Brautvater spricht zu den Frischvermählten. Alles exakt in der Zeit. Die Braut strahlt und der Bräutigam mit ihr. Der Hauptgang ist in der Küche abgerufen, der Küchenchef gibt die letzten Instruktionen an seine Leute, die Servicecrew ist startklar. Und dann fällt der Herd aus. Der Schrei des Küchenchefs übertönt den tosenden Applaus der gesamten Hochzeitsgesellschaft, nachdem Papa seine Rede mit einem selbst gereimten Gedicht beendet hat.

Alle sind in Aufruhr. Alle schauen gefühlt auf mich. Ja, jetzt gilt es zu agieren, es reicht, dass der Küchenchef mit der Flasche Schnaps kurzzeitig im Kühlhaus sitzt.

Für solche technischen Pannen gibt es Lösungen. Und wer es geschickt angeht, schafft es, dass wie in diesem Fall kein Gast etwas merkt. Wenn Klarheit praktiziert, der Fokus gehalten und das gemeinsame große Ziel zusammen verfolgt wird. Wenn das Vertrauen stärker ist als die Angst, dass „der schönste Tag“ in einem Chaos endet. Ist er nicht. Er verlief nur etwas anders und war somit dennoch „perfekt“.

Ja, das hätte auch anders ausgehen können. Und eine solche Hochzeit … die gibt es (in den meisten Fällen) nur einmal. Die lässt sich nicht wiederholen. Wenn da etwas schief geht, dann ist das nicht mehr zu korrigieren.

Vergeltung wird auf der großen Bühne ausgeübt

Da kann es passieren, dass sich die Menschen persönlich getroffen, ja gar beleidigt fühlen. Einige wiederum finden sich in dem Strudel der Frage „Was sollen nur die anderen von uns denken?“ wieder und andere haben regelrecht das Gefühl, verloren zu haben. Fast so, als wäre ein solcher Tag ein Wettbewerb. „Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer feierte die schönste Hochzeit im ganzen Land?“ Jetzt ist die Skala nach oben scheinbar unbegrenzt und der Fantasie der Rache, der Vergeltung, des Auslebens von Ärger und Wut keine Grenzen gesetzt. Von Wortgefecht über kämpferischen Schriftwechsel bis hin zu übelsten Beschimpfungen auf öffentlichen Plätzen – es ist wie vor dem höchsten Gericht. Das, was früher zwischen den betroffenen Parteien blieb und dort zur Lösung reifen durfte, wird heute teilweise auf einer Bühne ausgetragen, bei der Menschen im Zuschauerraum sitzen, die damit gar nichts zu tun haben. Die Tragödie wird in solch schillernden Facetten bespielt, dass aus dem einstigen Applaus ein Chor der Buh-Rufe wird. Und während sich gerade noch über das ausgetauscht wurde, um das es einst mal ging, finden sich alle in einem Shitstorm wieder, der weit weg von dem ist, worum es einmal ging.

Manche zerbrechen daran

Es gibt Menschen, die ertragen das. Die schütteln sich einmal und weiter geht es. Doch es gibt auch Menschen, die gehen innerlich erst am Krückstock und wenn dann da keiner ist, der sich mit in den Ring stellt und Halt gibt, zerbrechen sie daran. Erst den Sinn verlieren und irgendwann sich selbst.

Manche nehmen es sich sogar zu sehr zu Herzen …

Es klopft an der Tür vom Wartezimmer vor dem OP. Die Herzchirurgin lächelt den Angehörigen entgegen. „Ihrem Mann, Eurem Vater geht es gut. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Wir sehen uns morgen.“