Was stimmt mit Ihnen nicht?

Sabine ist eine gestandene Frau. Seit Jahren äußerst erfolgreich als Geschäftsführerin eines Textilunternehmens tätig und angesehene Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Immer wieder mal war zu lesen, dass sie Tierliebhaberin durch und durch ist, mit einem halben Zoo, der bei ihr zuhause und auf ihrem Grundstück lebt. Und dann ist der Tag, an dem sie überglücklich davon berichtet, dass sie sich nach dem frühen Tod ihres Mannes und vielen Jahren des Alleinseins, neu verliebt hat. Das Strahlen steht ihr ins Gesicht geschrieben, ja, wer richtig hinschaut, erkennt, dass ihr Herz überquillt vor Glück. Doch manche sehen weniger das und einzig nur dies: Eine Jägerin mit geschultertem Gewehr.

Ja, Sabine ist auch passionierte Jägerin und das schon seit mehr als 20 Jahren. Bereits als Kind beobachtete sie ihren Vater bei der Jagd, der sie von klein auf lehrte, dass die Jagd angewandter Naturschutz ist. Sobald es ihr Alter zuließ, legte sie die erste Jagdprüfung ab, denn sie wollte ihren Beitrag dafür leisten, dass der Wildtierbestand gesund bleibt. Zuständig sein, dass Nistkästen aufgehängt oder Salzlecken angelegt werden, damit das Wild mit wichtigen Mineralien versorgt wird. Verantwortung übernehmen, Äsungsflächen anlegen und auch das Schaffen besonderer Rückzugsflächen als Wildruhezonen liegen ihr am Herzen. Das alles ist natürlich nicht auf diesem Foto zu sehen und schon geht es los.

Vom Role Model zur Hassfigur

„Moment mal, wie soll das denn bitte gehen? Tierliebhaberin und Jägerin?“, ist dabei noch eine harmlose Frage, die jedoch Zündstoff für einen Schwall übelster Beschimpfungen bietet. Eine Lawine von Entrüstung rollt los und abgesehen davon, dass sich im Chatverlauf vollkommen unbekannte Menschen untereinander in einer Art und Weise niedermachen, dass einem angst und bange wird, ist Sabine durch ein einziges Foto vom Role Model zur gehetzten Hassfigur mutiert, die durch den Wald der sozialen Medien getrieben wird.

Zwischen all diesen Verwünschungen findet sich ein Kommentar von Sabine. Klar. Prägnant. Wertschätzend. Keine Rechtfertigung, vielmehr der Antrag an die Vernunft der Menschen. Doch genau die ist gerade außer Rand und Band und inmitten der verbalen Steinigung hat Sabine nur noch eine Frage: „Ich bin verletzt und Sie schießen auf mich aus Ihrer mit Samt ausgelegten Loge. Was stimmt mit Ihnen nicht?“

Die Kommentarlawine rollt unaufhörlich

Im Moment gibt es so viele Situationen, in denen ein klitzekleiner Anstoß genügt. Eine Lawine von dahindonnernden Dominosteinen dafür sorgt, dass das mit Bedacht und viel Ehrgeiz, Fleiß und Willensstärke formulierte und mit Akribie aufgebaute zerstört wird. Eben noch ein wertvoller Impuls und mit einem Kommentar ein Genderthema. Gerade noch Inspiration pur und irgendjemand entdeckt eine unterschwellige Diffamierung von was auch immer. Sind hier Kommunikationsnarzissten unterwegs oder Menschen, die einfach nur Recht haben wollen? Und jetzt geht es plötzlich der Haltung an den Kragen. Die Freude daran, mit Stil und Anstand, mit Takt und Höflichkeit die eigene Haltung zu vertreten bekommt einen gewaltigen Dämpfer.

Was ist mit denen los? Mit diesen Menschen, die mit ihrem Recht anderer Meinung sein zu dürfen, sich in der Beharrlichkeit, dass ihre Meinung nicht anders, sondern die einzig richtige ist, festfahren und damit Verletzungen anderer in Kauf nehmen, statt darauf zu vertrauen, dass da jemand in aller Liebenswürdigkeit agiert hat.

Ich weiß, dass ich recht habe!

Wir kennen das alle. Das Gefühl von: „Ich weiß, dass ich damit recht habe!“ Ja, auch ich bin da direkt mit dabei und stehe vermutlich dann und wann ganz vorne in der ersten Reihe. Könnte ausflippen, wenn sich jemand vordrängelt, obwohl ich es selbst eilig habe. Könnte aus dem Karton knallen, wenn ich morgens im Dunkeln von oben bis unten in neongelber Kleidung mit der Figur nicht immer schmeichelnden Quer-Leuchtstreifen angeschustert auf dem Feldweg jogge und mich in der Kurve der Fahrradfahrer vor Schreck ins Gebüsch springen lässt, weil das Zweirad ohne Licht unterwegs ist.

Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich bin bestimmt kein Engel der Unschuld, die immer alles richtig macht. Auch mir passiert es, dass ich gedankenverloren Menschen begegne, die mein Auge zwar irgendwie sieht und was auch immer in mir in Gang setzt, dass ich die Person nicht umrenne, doch bei denen ich von wirklicher Wahrnehmung weit entfernt bin. Und somit natürlich nicht erkenne, dass das Uschi und Klaus-Dieter waren, mit denen es stets erheiternd ist, einen Klönschnack zu halten und die auch eher pikiert als erfreut sind, wenn ich sie nicht sehend links liegen lasse.

Ist jeder mit anderer Haltung ein Feind?

Zurück zu den Erlebnissen, die meine Haltung gegenüber den Menschen herausfordert. Ja, es kann sein, dass ein Mensch mit meinem Blick durch meine Brille einen Fehler macht. Die Frage ist: Wird der Mensch deswegen gleich zu meinem Feind?

Sich zu ärgern ist okay. Ist auch das Ausdruck, eine klare Haltung zu etwas zu haben.

Zu sagen: „Ich habe ein Problem mit dem Thema Jagd“, ist absolut legitim.

Doch wird ein Mensch deswegen zum Feindbild?

Und … Hand aufs Herz: Wie oft waren Sie schon innerhalb von Sekundenbruchteilen von einem Fehlverhalten eines anderen Menschen überzeugt, obwohl Sie nicht wissen, wieso der Typ mit dem Fahrrad in einem Affentempo über den Fußweg rast oder sich die Frau völlig hektisch an der Ladenkasse vordrängelt? Vielleicht ist da ein krankes Kind zuhause. Vielleicht hat die Pflegekraft Feierabend und die pflegebedürftige Mutter darf nicht mehr alleine sein, doch der Tee ist alle und den braucht die Mutter heute Abend, die Telefonkonferenz hat einfach nur länger gedauert als geplant.

Wie oft waren Sie schon innerhalb von Bruchteilen von einem Fehlverhalten eines anderen Menschen überzeugt, obwohl Sie sich in dem Metier überhaupt gar nicht richtig auskennen?

So ging es mir früher auch mit dem Thema Jagd, weil ich mich nur an die Bilder als Kind über Kopf abgezogenen Rehwilds erinnerte, über die ich mich so freute, wenn ich sie über die Felder springen sah oder die mich aus der Ferne mit ihren Knopfaugen ansahen. Heute weiß ich es anders und mein großer Wunschtraum ist, den Jagdschein zu absolvieren und damit meinen Beitrag zum Naturschutz zu leisten. Sie dürfen das jetzt unmöglich finden. Das ist absolut legitim. Ich würde mich freuen, Sie bleiben mir dennoch gewogen. DANKE schön.