Sommerurlaub – Knigge auf Abwegen?

Heute Morgen … im „The Pioneer Briefing“, von Chefredakteur Michael Bröcker: „Auch Knigge hat offenbar Sommerpause. Zumindest für prominente Männer. Der König von Spanien, Felipe VI., lässt neuerdings Krawatte und Anzug weg und Bundeskanzler Olaf Scholz wandert mit Baseball-Kappe und Shorts durch das Allgäu. Und der mächtigste Mann der Welt, US-Präsident Joe Biden, wurde unlängst in Radsportbekleidung gesichtet. Wenn nun also sogar die royalen Stilikonen die Etikette außen vor und die Bequemlichkeit in ihr Leben lassen, sollten auch wir Normalo-Männer uns dies zum Vorbild nehmen. Ab sofort sind auch kurze Hosen im Büro erlaubt, nur das kurzärmelige Hemd lassen wir Männer bitte weiter zuhause.“

Das wird hier kein Statement zu „Was trage ich im Büro“ oder eine Anmerkung dazu, dass sich die Dienstkleidung hier und da gelockert hat (wenngleich ich zugegebenermaßen stolz wie Bolle bin, dazu letzte Woche beim WDR2-Frühstücksradio ein Interview gegeben haben zu dürfen. Aufgrund meiner Aussage „Der Tag beginnt vor dem Kleiderschrank“, wurde ich von der begnadeten Journalistin Bernadette Winter in einem dpa-Artikel zitiert), sondern es geht mir an dieser Stelle hierum: Knigge ging es um den Umgang mit den Generationen, verschiedenen Berufen, unterschiedlichen Charakteren, mit dem Ziel, dass wir uns gegenseitig Enttäuschungen ersparen. So hielt er es fest, in seinem wohl bekanntesten Werk von 1788 „Über den Umgang mit Menschen“. Eine Aufklärungsschrift für Taktgefühl und Höflichkeit. Er schrieb über Werte, Ethik, Moral, Menschlichkeit und Natürlichkeit. Kurzum: Die Pflege und Veredelung des Individuums war sein Ziel.

Begegnungsqualität ist mehr als Benimmregeln
Diese ganzen Themen zu Kleiderkodex und „Benimm“ hat der Verlag nach dem Tod des Freiherrn Knigge ergänzt und alle zehn Jahre aktualisiert. So wurde sein Werk irrtümlicherweise als Benimmbuch missverstanden.

Für Knigge waren diese Dinge auch wichtig, doch ihm ging es um Begegnungsqualität, um Wertschätzung. Durch gelebte Wertschätzung haben wir die großartige Möglichkeit, dazu beizutragen, dass wir den Tag des Menschen, dem wir begegnen, zu einem guten Tag werden lassen oder zumindest zu einem besseren, als wenn wir dieser Person nicht begegnet wären. Ich finde diesen Gedanken immer wieder neu sehr bewegend und berührend. Was für eine Tragweite …

Richtig: Begegnungsqualität geht über die Kleidung hinaus oder wie ich gerne sage: „Da kann der Zwirn noch so edel sein: Stil und Benehmen sind mehr als nur Kleidung.“ Ja, in einem Hotel machen mich wahrlich nicht alle Gäste glücklich, wie z. B. diejenigen mit der Frage an die hübsche Kellnerin: „Wann machen Sie Feierabend oder stehen Sie auch auf der Karte des Zimmerservice.“ Oder die Gäste mit dem Drohfinger und der spitzen Bemerkung an der Rezeption: „Morgen will ich das Frühstück von jemandem serviert haben, der Deutsch spricht.“ Oder auch wie die Mutter mit der Designertasche am Arm, dem gescheitelten Sohnemann an der Hand und den Worten: „Schau genau hin, Sohn, schau da ganz genau hin. So ein Tellertaxi wird aus Dir, wenn Du in der Schule nicht lernst.“ Ja, in solchen Fällen ist es besser, ich zähle nicht von 10, sondern von 100 rückwärts.

Erwartungshaltung und Mensch sein dürfen

Ja, und manchmal schwingt bei uns ja doch so etwas wie eine Erwartungshaltung mit – auch wenn uns Experten dazu raten, dass wir uns davon frei machen sollten. Doch stellen Sie sich vor, Sie bestellen den Fliesenleger und der steht morgens im Nadelstreifenanzug vor der Tür. Oder die Tischlergesellin, die im Seidenkleid mit Hobel, Beitel und Säge die Holzarbeiten durchführt. Also mir käme das komisch vor.

Die königlichen Hoheiten in elegant, legerer Sommerkleidung zu sehen, Bundeskanzler Olaf Scholz mit Baseball-Kappe und US-Präsident Joe Biden in Radsportkleidung ist eines: Ein Zeichen dafür, dass diese Menschen Menschen sind. Diese Menschen wissen, was ihnen guttut, dass sie dafür sorgen, ihren Akku wieder aufzuladen, dass sie sich die Zeit nehmen, kurz mal Luft zu holen und Energie tanken, für eine Dosis frisches Denken, um wieder wirksam zu sein.

Ich lade Sie ein zu Respekt und Wertschätzung diesen Menschen gegenüber, für ein Eingestehen, dass auch diese ein Recht darauf haben, das zu tun, was so viele Menschen in diesen Wochen machen: Sich Zeit für sich nehmen, Zeit für ein Privatleben. Ja, ich kann mir vorstellen, dass dies auch im Sinne des Freiherrn Knigge wäre.

Und für die Menschen, die in diesen Tagen in die Büros gehen und den Tag vor dem Kleiderschrank beginnen: Schenken Sie den Menschen, denen Sie heute begegnen einen kleinen Moment Ihrer Aufmerksamkeit und stellen Sie sich bitte nur diese eine Frage: Was ist da wohl für eine unausgesprochene Erwartung derer, denen ich heute geschäftlich begegne und inwieweit ist es für mich ein Ausdruck von Wertschätzung, meine Wirksamkeit gegebenenfalls mit meiner Kleidung zu unterstreichen?