Ist Ihre Fehlerkultur Kintsugi?
„Forget your perfect offering.
There is a crack, a crack in everything.
That's how the light gets in.“
So einige Zeilen im Song „Anthem“ von Leonard Cohen. Frei übersetzt: „Vergiss das Perfekte. Es gibt einen Riss, einen Riss in allem. So fällt das Licht hinein.“ Der kanadische Sänger zielte mit diesem Songtext vor allem auf existenzielle Fragen – auf Krieg und Frieden, Beziehungen und den persönlichen Glauben –, doch auch, wie er einmal in einem Interview sagte, auf die Arbeit. Dort suchen wir ebenfalls oft vergebens nach Perfektion, so wünschenswert sie auch sein mag. Fehler und Makel haben keinen Platz. Nähern wir uns dieser weitverbreiteten Ansicht einmal von Fernost an: mit der japanischen Kintstugi Philosophie.
Diese lehrt uns, das Unperfekte zu schätzen und als etwas Wertvolles zu betrachten, ja sogar zu vergolden. Makel, Risse und Fehler werden nicht bis zur Unsichtbarkeit unkenntlich gemacht, sondern hervorgehoben. Wie wäre es also mit einer goldenen Fehlerkultur in Ihrem Unternehmen?
Wer oder was steht hinter Kintsugi?
Ein kleiner Exkurs in die Geschichte: Wir befinden uns im 16. Jahrhundert in Japan. Die wohlhabende Klasse pflegt regelmäßig ihre Teezeremonien – eine Tradition, die für sie Glanz und Luxus widerspiegelt. Allerdings zeichnet sich durch den sich weiter ausdehnenden Zen-Buddhismus eine Veränderung ab. Das neue ästhetische Prinzip Wabi Sabi entsteht. Im Zentrum steht die Ansicht oder der Gedanke, Schönheit in jedem Aspekt der Unvollkommenheit in der Natur zu finden. Kintsugi (Verbinden mit Gold) ist ein Teil von Wabi Sabi und beschreibt eine besondere Kunst der Reparatur. Zerbrochene Keramikgegenstände, wie Teeschalen, Vasen oder Teller werden mit dem japanischen Naturlack Urushi geklebt und wieder zusammengefügt. Die Bruchstellen werden dabei nicht verdeckt, sondern durch die Verwendung von Goldstaub hervorgehoben. Es entsteht ein neues, einzigartiges Erscheinungsbild, das den – vermeintlichen – Makel des Kaputten in den Vordergrund stellt.
Warum ich das so detailliert beschreibe? Ich bin weder Japanologin noch besonders bewanderte in der Kunst von Kintsugi – doch erkenne ich darin viele Parallelen zur Fehlerkultur in Unternehmen. Und dies vergolde ich jetzt einmal für Sie.
Vergoldete Fehler führen zu Resilienz
Noch immer verhalten sich viele Unternehmen wie die japanische Oberschicht im 16. Jahrhundert – und sind wir ehrlich, dieses Zeitalter ist nun wirklich vorbei. Sie streben nach Perfektion, die es nicht gibt. Die Führung lässt keine Fehler bei ihren Mitarbeitenden oder sich selbst zu. Passiert es doch, werden die Scherben beseitigt, eine neue „Teetasse“ gekauft und nie wieder ein Wort darüber verloren. Zerbricht jemand nochmals etwas, wird er samt den Bruchstücken vom Hof gejagt. Ja, das ist drastisch ausgedrückt, doch keinesfalls realitätsfern, wenn ich an meine Erfahrungen der vergangenen Jahre denke.
Kinstugi hingegen zeigt, wie großartig es sein kann, Fehler „zu reparieren“ und dabei sogar symbolisch sichtbar zu machen. Vergoldete, wertvolle Lernerfahrungen, die versinnbildlichen, dass hier zwar etwas zu Bruch gegangen ist, dass jetzt schöner, wertvoller, einzigartiger wiederkehrt.
Das Business (leben) verläuft nicht linear und nicht immer in unserem Sinne. Manchmal geht etwas zu Bruch – sei es zwischenmenschlich, bei einem Auftrag oder einfach mitten in der Arbeit. Doch jeder Bruch, jedes Einzelteil ist ein Unikat und damit eine einzigartige Erfahrung, für die wir dankbar sein dürfen. Bevor wir jetzt die Scherben unten den Teppich kehren, auf den Müll werfen oder so reparieren, dass alles wie neu aussieht, nehmen wir uns ein Beispiel an Kintsugi und lassen die Fehler erstrahlen. Kaschieren wir scheinbare Makel im Sinne von „Die nimmt kein Blatt vor den Mund“, „Der ist immer viel zu empathisch“ nicht mehr, sondern betonen und würdigen wir sie als Teil unserer Persönlichkeit. Unser Reichtum an Imperfektionen, Erfahrungen und Fehlern ist eine enorme Ressource für die Zukunft – und eine Quelle für Widerstandsfähigkeit. Ähnlich wie bei Kintsugi tragen Fehler dazu bei, die Stärke und Resilienz eines Unternehmens zu betonen und seine Geschichte zu formen.
Gut ist, wer das akzeptiert, um eine andere Gelassenheit zu gewinnen. Und hoffentlich auch eine Offenheit für das, was aus dem Nicht-Perfekten entstehen kann, ganz im Sinne von Leonard Cohen: „That’s how the light gets in“ …