Erwartung: High Performance vs. Realität: Was ist da los?

„Gold-Medaillen-Hoffnung krachend gescheitert“, „Der Traum vom fünften Gold ist geplatzt“, „Dramatisches Aus im Viertelfinale“ – viele dieser und ähnlich formulierter Verurteilungen durften wir in den letzten Wochen lesen, wenn vermeintliche Top-Favoriten doch nicht so performten, wie „man“ es erwartet hat.

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Wer bitte ist „man“? Dazu gleich mehr, denn – wow – das klingt nach ordentlich viel Leistungsdruck. Doch der gehört heute zu dieser Art des Sports wohl dazu. Manch einer erinnert sich gegebenenfalls noch an „den olympischen Gedanken“ und das „dabei sein ist alles“. Manchmal überkommt mich schon die Frage, was wohl Pierre de Coubertin, der Vater der Olympischen Spiele, zu solchen Formulierungen sagen würde.

Hoffnungen schenken Wunder, Erwartungen bergen Enttäuschungen

Viele Menschen leben heute in Überforderung. Haben Sorgen und Ängste, kommen mit dem Druck der teils hohen Anforderungen kaum mehr zurecht und das Paket der Belastung wird immer schwerer. Doch das ist nicht nur im Leistungssport so. Das finden wir an so vielen Stellen unserer Leistungsgesellschaft. Nur das im Sport hier und da mal ein Aufschrei erfolgt. Insbesondere dann, wenn nahezu die ganze Welt zuschaut, wie jetzt in Tokio 2021. Und … sind wir uns bitte im Klaren darüber, dass das Bild, welches wir durch die Medien erhalten, nicht das ist, was sich teilweise „hinter der Bühne“ zeigt. Schon beim Blick auf die Bühne der jeweiligen Sportarten gibt es ausreichend zu sehen, was nichts mit dem Sport an sich zu tun hat, sondern mit dem Umgang eben jener Erwartungshaltungen. Oder sollte ich sagen Hoffnungen? Hoffnungen schenken bekanntlich Wunder, Erwartungen mitunter Enttäuschungen. Hoffnung, die große Schwester von Erfolg.

Wer ist eigentlich „man“?

Bevor ich es aus den Augen verliere: Wer ist denn nun eigentlich „man“? Der Druck kommt aus unterschiedlichen Richtungen. Im Sport sind es oft die Eltern – wenn ich hier an meine Jugend zurückdenke – wie sich meine Eltern immer und immer wieder für mich und meinen Sport Zeit genommen haben, welche Summen an Geld sie in mich und meine sportliche Laufbahn gesteckt haben… Dazu gesellen sich Fördernde aus dem Finanzsektor, die Trainingsleitung und nicht zu vergessen die Medien. Und alle haben sie ihre eigenen Erwartungen.

Später in meiner Zeit der Hotellerie denke ich noch gerne an den Ruf aus dem Office: „Man sollte mal wieder die Bar putzen.“ Und wenn sie keines anderen belehrt wurden, warten sie vermutlich heute noch auf „man“.

„Man“ sind Alle. Oder auch Niemand.

Erwartungen und die physischen und psychischen Auswirkungen

Und das mit der Erwartung? Kommt diese immer von außen? Das zu sagen, geht schnell und ist herrlich einfach. Zack – sind wir bei „Schuld haben die anderen.“ Doch das ist nicht immer so, denn es gibt sie: Die Menschen, die sich selbst so sehr unter Druck setzen, um ihrer eigenen Erwartung zu entsprechen, dass auch das gefährlich werden kann.

Im ersten Moment physischer Art. „Wenn der Rhythmus gestört ist und das Gehirn für eine halbe Sekunde stottert, reicht das aus, um die ganze Übung zu stören“, weiß Lauren Hernandez, die in Rio de Janeiro 2016 mit dem US-Team der Turnerinnen Gold gewann. „Und je mehr Gedanken du dir darüber machst, desto schlimmer wird es“, ergänzt Alea Finnegan, eine 18 Jahre alte Turnerin aus dem US-Kader, die sich nicht für die Spiele in Tokio qualifizieren konnte. „Man hat keine Kontrolle über sich selbst und darüber, was der Körper als nächstes tun wird, und riskiert damit buchstäblich sein Leben. Etwa wenn man unglücklich vom Gerät stürzt.“[1]

Im zweiten Moment psychischer Art, wie das Beispiel des von mir sehr geschätzten Schweizers Martin Fuchs zeigt, einer der weltbesten Springreiter unserer Zeit, der vor dem entscheidenden Parcours auf eigenen Wunsch psychologische Hilfe in Anspruch nahm, um diese enorme innere Anspannung etwas lösen zu können. Für ein paar Stunden gesunden Schlafs. Doch auch hier: Es war nur diese eine Millisekunde, welche die eigene Erwartungshaltung zunichtemachte.[2]

Hören Sie Hilferufe von Mitarbeitenden?

Zu Ihnen. Wie ist das bei Ihnen im Unternehmen?

Wann haben Sie einen solchen Hilferuf eines Mitarbeitenden das letzte Mal gehört?

Und ich gehe jetzt mal in Ihrem Sinne davon aus, dass Ihre Mitarbeitenden den Mut hätten, einen solchen Hilferuf abzusetzen.

Erkennen Sie, wenn einer Ihrer Mitarbeitenden sich selbst so unter Druck setzt, dass diese Person sich schlimmstenfalls selbst gefährdet?

Dürfen Sie sicher sein, dass Sie Ihre Leute so gut kennen, dass Sie um die Menschen in deren Umfeld wissen, die da neben Ihrer Erwartung auch noch eigene Erwartung platziert haben?

Es geht um mentale Gesundheit. Um Ihre und die Ihrer Leute. Darum, dass wenn Enttäuschung durch verfehlte Erwartung uns umzuwerfen droht, dass wir jemanden haben, der uns hilft, das Gleichgewicht zu halten. Darum, dass wir unser Bestes geben sollen, doch nicht vergessen dürfen, dass unser Leben ein Geschenk ist.

 

[1] Quelle: https://www.dw.com/de/simone-biles-wenn-der-kopf-nein-sagt/a-58695695

[2] Quelle: https://www.aargauerzeitung.ch/sport/olympische-spiele-martin-fuchs-verpasst-die-angestrebte-olympia-medaille-und-sagt-ich-habe-mein-pferd-im-stich-gelassen-verdammt-ld.2170521