Der „Kleine“ ist noch nicht so weit
Der Patriarch des Familienunternehmens sitzt mit allen Führungspersönlichkeiten an einem Tisch. Ein gewichtiges Meeting. Wird er verkünden, sich zurückzuziehen? Das kommt nicht in Frage. Der wird im Unternehmen bleiben, bis er tot umfällt – so viel ist klar. Mit einem Blick, wie es nur Väter können, schaut er seinen Sohn an und dann folgen die Worte: „Mein Kleiner ist noch nicht so weit, die Firma zu übernehmen!“ Vereinzeltes Glucksen. Vorgetäuschte Hustenanfälle. Beschämte Gesichter. Denn der „Kleine“ ist keine 5, sondern 55. Unangenehmer kann ein Moment kaum sein.
Schon sind wir mittendrin im Thema Erwartungshaltung. Die Jungen erwarten, dass die Alten endlich loslassen und die Alten wiederrum erwarten, dass alles so weitergeht wie bisher. Und schon wird fleißig in der Konfliktsuppe gerührt, bis es am Ende für alle Beteiligten ungenießbar ist.
Wir haben nicht mehr 1980
Bei diesem Meeting war noch ein weiterer Senior in der Runde. Dieser erzählte, dass die Übergabe an seine Kinder wunderbar funktioniere und er lediglich noch in beratender Funktion tätig sei. Noch beschämender für den Sohn des Inhabers, zumal er seit mehr als 10 Jahren große Anteile am Unternehmen hat – allerdings nur auf dem Papier. Wenn niemand sonst anwesend gewesen wäre, wäre es wahrscheinlich laut aus mir herausgeplatzt: „Ist das wirklich Ihr Ernst?!“ Selbst wenn der Sohn irgendwann übernimmt, dann soll er bitte genauso weitermachen. Natürlich will er das nicht. Schließlich haben wir nicht mehr 1980 und der Control und Command Befehlston des Vaters hat heute nichts mehr im Unternehmen zu suchen. Doch nichts da. Nach wie vor schreibt der Senior kilometerlange Anweisungen an seine Leute. Das Nachfolgende ist nicht etwa aus einem Witzebuch für Manager, sondern knallharte Realität: Der Senior schickte an einen Abteilungsleiter in seinem Unternehmen eine Nachricht und nahm 47(!) weitere Leute in den Verteiler auf. Wie bitte? Ja, Sie lesen richtig. Der gesamte Bereich dieser Firma wurde involviert. Und der Sohn wurde darin so diskreditiert, dass sich das Team schon fragte, warum er überhaupt noch kommt. Da fehlten selbst mir die Worte.
Wenn Einigkeit zum Fremdwort wird
Es ist unglaublich, was teilweise in Familienunternehmen heutzutage immer noch vorherrscht. Mit eisernem Griff umklammern die Senioren ihr Lebenswerk und wollen nicht loslassen. Vertrauen in die eigenen Kinder: Fehlanzeige. Die werden nie bereit sein, alles zu übernehmen. Knallt es an allen Ecken und Enden, wird eine externe Beratung gebucht. Die Erwartung: Sie sollen absolut der gleichen Meinung sein, wie die seit Jahrzehnten Herrschenden. Wenn dem nicht so ist, folgt der nächste Knall. „Ich habe hier alles mit meinen eigenen Händen aufgebaut und jetzt soll ich zulassen, dass die Jungen es verändern? Niemals!“, so in etwa lautet der Tenor. Selbstverständlich gebührt ihnen Respekt und es ist bewundernswert, wie sie aus einer kleinen Klitsche ein Unternehmen mit 350 oder 400 Mitarbeitenden aufgebaut haben. Doch genau das bedeutet eben auch Veränderung. Früher hat doch Mutti noch für alle gekocht und mittags wurde gemeinsam gegessen – nun ja, versuchen Sie das mal mit 400 Leuten. In der Unternehmensleitung geht es genau wegen solcher Themen oft heiß her. Uneinigkeit nistet sich ein. Damit ist dann auch die Erwartungshaltung an Wachstum und Innovation ganz schnell dahin.
Die Erwartungs-Enttäuschungs-Spirale durchbrechen
Fakt ist, dass sie früher oder später kommt: Die Nachfolge im Unternehmen. Und diese ist immer mit Erwartungen von beiden Seiten verknüpft. Liegen die allerdings so weit voneinander entfernt wie Sonne und Mond und fehlt noch dazu die Kommunikation, wird die Kluft im Laufe der Jahre immer größer. Erwartungen werden enttäuscht, die Enttäuschung führt erneut zu Reaktionen, die wiederum Erwartungen enttäuschen – bis alle am Boden der Erwartungs-Enttäuschungs-Spirale ankommen und die Nachfolge komplett in die Hose geht. Und alles, weil zu Beginn nicht klar darüber gesprochen wurde, wie sich jeder den Prozess vorstellt und was ihm oder ihr dabei wichtig ist. Deshalb gilt: Sprechen Sie die ungerechtfertigte Erwartungshaltung an. Machen Sie klar, dass Sie diese weder erfüllen können noch wollen. Durchdenken Sie Ihre eigenen Erwartungen. Und nehmen Sie auch mal eine andere Perspektive ein.
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