„Ach komm schon … Das schaffst Du doch!“

Wenn ein Mensch 20 kg nicht heben kann, dann sehen wir das, nehmen auf diese körperliche Überbelastung Rücksicht und finden eine adäquate Lösung, dieses Gewicht doch bewegt zu bekommen: mit Unterstützung anderer oder eben durch jemanden, für den diese 20 kg ein „Leichtgewicht“ sind oder wenigstens mit normaler Anstrengung zu meistern. Doch was ist, wenn ein Mensch mit der psychischen Belastung nicht zurechtkommt? Sehen oder besser erkennen Sie das auch?

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Das Beispiel mit den 20 kg gab mir Herr Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Hillert, Chefarzt der Schön Klinik Am Roseneck in Prien am Chiemsee, mit auf den Weg. An seiner Seite und auf seiner Station der Erwachsenen, an Burnout und Depression erkrankten Patienten, durfte ich im Oktober 2018 ein Praktikum absolvieren.

Sie interessierte mich: die Spitze des Eisbergs

Ich wollte erfahren und erleben, wie es den Menschen geht, die dem Ruf einer psychosomatischen Klinik folgen. Wie ein solcher Klinikalltag aussieht, welches Zeitfenster an Wochen oder Monaten die Menschen hier zumeist verbringen und wie die Therapieansätze sind. Welche körperlichen Symptome sind erkennbar – unsere „Muttersprache“ Körper spricht hier ganz deutlich, denn den Menschen, die ich dort traf, war die selbstbewusste, gerade, offene und lebendige Ausstrahlung allzu oft verloren gegangen.

Ich wollte sie erforschen, die Antwort auf die Frage: „Was ist den Menschen passiert, dass sie in dieses Krankheitsbild der Depression oder in den ausgebrannten Zustand des Burnouts gelangen?“
Keine Neugier des Einzelschicksals, sondern Interesse an der Herkunft und der „Wurzel des Übels“.

Meine ganz persönliche Zielstellung

„Wie erkenne ich in meinen Gesprächen mit den Menschen, die sich mir anvertrauen, dass eine erhöhte psychische Belastung vorliegt?“
„Welche Empfehlung für wirklich einfache, präventive Maßnahmen kann ich den Unternehmenden und Firmen-Chefs geben, dass sie selbst und die Mitarbeitenden aller Hierarchieebenen psychisch gesund bleiben?“
Wieso ist mir das so wichtig?
Die psychische Gefährdungsanalyse existiert seit 2013. Doch immer noch gibt es Unternehmende, die sich nicht darum kümmern. Unter uns: Ich war auch eine von denen. War ich doch stets davon überzeugt, dass ich alles tat, um meine Crew gesund zu halten. Doch wenn ich ganz ehrlich bin: Das war verdammt nochmal zu wenig. Auch wenn ich in aller Ehrfurcht und tiefer Dankbarkeit auf die besonderen Situationen mit den Menschen zurückblicke, die sich mir in ihren ganz besonders schweren Lebensphasen anvertrauten, so weiß ich heute, dass ich nur auf die schaute, denen ihr Kummer von außen anzusehen war oder die mir im Unternehmen fehlten, weil sie krank waren.

Wenn ich könnte, würde ich diese Menschen heute im Nachgang um Entschuldigung bitten, dass ich so handelte. Es war keine böse Absicht – ich wusste es nicht besser.

Es gab so viel anderes zu tun und wir hatten doch schon einen Sicherheitsbeauftragten … Dass dieser einen anderen Themenschwerpunkt hatte, war mir bewusst, doch darüber hinaus habe ich zugegeben nicht gedacht.

Heute tue ich das und es ist meine ganz persönliche Mission, Ihre Aufmerksamkeit hierauf zu lenken. In aller Liebenswürdigkeit. Denn ja, wir erkennen, wenn jemand 20 kg nicht heben kann, doch wir erkennen viel zu selten oder eben auch gar nicht, wenn jemand wirklich, echte, wahrhaftige psychische Belastungen hat, welchen diese Person nicht gewachsen ist.

Und im ersten Schritt ist es im Grunde ganz einfach, hier etwas zu tun, doch bevor ich dazu komme, noch ein paar Daten, die mich so erschreckten, dass ich Sie gerne mit Ihnen teile.

Laut des DAK Gesundheitsreports 2019 ist die dritthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeiten in Deutschland psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen. Nach epidemiologischen Studien gehören psychische Erkrankungen zudem zu den kostenintensivsten Erkrankungen.

Das Bundesarbeitsministerium hat eine arbeitsmedizinische Empfehlung zum Thema „Psychische Gesundheit im Betrieb“ herausgebracht, denn die Fälle psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz nehmen eher zu als ab und das trotz – oder aufgrund (?) – aller Digitalisierung. Wer kennt sie nicht: Die ständige Erreichbarkeit.

Und nun auch noch die Pandemie. Mit der Anordnung „Homeoffice“ und das auch gerne für die Menschen, zu denen das so gar nicht passt. Die untergehen im Stress zwischen Kinderbetreuung, HomeSchooling und dem eigenen Job, nun zu Hause vom Küchentisch aus.

Damit tun wir uns als Unternehmende ernsthaft gut daran, dem Thema den Stellenwert beizumessen, den es braucht. Damit wir selbst, die Mitarbeitenden, die Führungscrew und das gesamte Unternehmen gesund bleiben.

Und nun endlich zu ein paar Gedanken für innovative Wege, das seelische Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu stärken.

Sorgen Sie für eine offene Gesprächskultur und ausgebildete Bezugspersonen

Reden hilft! Doch wer redet, der wünscht sich jemanden, der auch wirklich hinhört. Eine Person, die ganz bei der Person ist, die da redet. Denn auch das zeigt die Erfahrung, dass manche Menschen erst einmal wieder zu lernen haben, dass sie Vertrauen haben dürfen. Und deshalb ist meine Empfehlung: Holen Sie sich hierfür bitte externe Unterstützung. Es kann wahre Wunder bewirken, wenn Sie die richtige „Vertrauensperson“ haben, die fachlich wie menschlich um das „was“ und „wie“ dieser Gespräche versiert ist. Gerade in klein- und mittelständischen Unternehmen kommt hier weder die Unternehmensführung weit noch die direkt vorgesetzte Person, denn im Unterbewusstsein schwingt einfach die Angst bei den Mitarbeitenden mit, ob sie sich wirklich öffnen dürfen oder am Ende dann doch Konsequenzen zu spüren bekommen, die das Arbeitsleben eher noch schwerer machen.

Viele Unternehmen haben ausgebildete Ersthelfende, die sich damit auskennen, körperliche Notfälle zu versorgen. Bei akuten psychischen Problemsituationen überwiegt allzu oft Hilflosigkeit und das darf nicht sein. Betriebliche psychologische Ersthelfende – meine Überzeugung: Wirklich wertvoll wird psychologische Ersthilfe erst von außen.

Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass sich Menschen Fremden in einem psychischen Notfall eher anvertrauen, als einer Person aus dem Kollegium, die ich, wenn es ganz dumm läuft, gar nicht leiden kann oder – und das ist nicht wirklich besser – mit der ich dick befreundet bin.

Das Commitment für die eigene Gesundheit

Viele belächeln es, doch es ist einfach wahr: Körperliche Fitness hat eine wirklich positive Auswirkung auf die mentale Gesundheit. Deswegen sollten regelmäßige körperliche Aktivitäten oder auch das Annehmen von Wellness-Angeboten liebevoll eingefordert werden.

Vereinbaren Sie mit Ihren Mitarbeitenden und erstellen Sie gemeinsam eine Absichtserklärung, also ein Commitment, was sie oder er in der kommenden Zeit dazu beiträgt, gesünder zu leben.

Ja, für manche ist hier schon ein Blick auf die ausgewogene Ernährung ein Punkt. Und was auch sonst kommt: Der Yoga-Kurs oder in eine aktive Walking-Runde in der Pause – wichtig ist, dass sich alle darin „committen“ und auch die Möglichkeit der Umsetzung erhalten.

Zwischenmenschlichkeit – geht auch auf Distanz

Einst waren es die Großraumbüros, welche die Kommunikation förderten. Und auch die Menschen, die oft stundenlang mit sich und ihrem Computer allein im Büro waren, wurden bewusst hervorgeholt, um zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen und ins Gespräch zu kommen. Das Getratsche in der Kaffeeküche ist dabei nicht gemeint …! Es geht um offene, dialog-fördernde Büroräume.

Dann kam von jetzt auf sofort das Homeoffice, was noch immer heiß diskutiert wird und aus dem Berufsalltag nicht mehr wegzudenken ist. Eines bleibt dabei: Es gibt Menschen, für die ist aus deren Bedürfnisstruktur heraus das Homeoffice nichts und wird es auch nie werden. Um die gilt es sich besonders zu kümmern, damit sie innerlich nicht kaputt gehen. Kurzum: Auch mit den Menschen, die von zu Hause oder von „sonstwo“ dazu geschaltet sind, lässt sich kontinuierlicher Kontakt halten – regelmäßige virtuelle Meetings, Business Lunch oder Coffee Dates mit Matching Apps: Das geht alles und verbindet die Menschen.

Zwischenmenschlichkeit geht für mich noch einen Schritt weiter. Hierbei geht es mir um die Positionen, die sehr anstrengend und energieaufwändig sind. Gerade hier tut es gut, regelmäßig gezielt nachzufragen. Nehmen wir als Beispiel die Rezeptionisten einer Unfallklinik, die immer wieder mit besonderen Härtefällen konfrontiert werden. Denn wenn wir Menschen unter einem immensen inneren Druck stehen und aufgeregt um das Leben eines lieben Menschen bangen, dann passiert es allzu oft, dass sich im Ton vergriffen wird und nicht nur in dem, sondern direkt in der gesamten Wortwahl. Da tut es gut, die Menschen „an der Front“ regelmäßig ganz gezielt nach solchen Erlebnissen zu fragen und sich zu erkundigen, wie sie damit umgehen. Um sicher zu gehen, dass sich hier keine Einzelerlebnisse auf unschöne Art „einbrennen“ und krank machen.

Und für diejenigen unter Ihnen, die jetzt vielleicht denken: „Das ist doch deren Job, dass haben sich die Rezeptionisten doch ausgesucht.“ sei gesagt: Ja, das haben sie, doch aus meiner Erfahrung empfehle ich Ihnen, ab und an zu überprüfen, ob die Seele noch im Gleichgewicht ist. Denn immerhin erwarten Sie von Ihren Rezeptionisten ja auch eine gewisse Empathie und die kann schon einmal mit der Kompensation von „wörtlicher Gewalt“ kollidieren. Davon abgesehen, dass ein jedes Empathiekonto irgendwann leer ist und der Mensch nicht mehr empathisch sein kann.

Bewusst das Tempo rausnehmen

Kennen Sie Menschen, die immer nur auf der Überholspur unterwegs sind? Die scheinbar nur um ihr Leben rennen und das oft gar nicht mehr merken, weil es zum Alltag geworden ist? Das Fatale ist, dass wir genau diesen Menschen allzu oft gerne noch etwas mehr aufbürden, da sie ja den Anschein machen, dass sie so flott unterwegs sind und das alles mit Bravour meistern.

Und genau hier gilt es einfach mal bewusst das Tempo rauszunehmen, um die Führungspersönlichkeit für einen Moment mal wieder in das Gefühl der „normalen“ Geschwindigkeit zu bringen.

Ralf Gasche hat hierfür ein sehr schönes Bild entwickelt. Es geht um die Kunst, mit dem „Lebensauto“ bei Tempo 200, schönstem Wetter, auf freier Strecke, freiwillig und ohne Anlass, die Geschwindigkeit zu reduzieren und nur noch 100 zu fahren.

Jede Menge Gründe sprechen dagegen, stimmt’s? Ob es die allgemeinen Druckszenarien in den Unternehmen sind oder auch besondere Führungskonstellationen – es scheint einfach unmöglich, die Arbeit, beziehungsweise die Geschwindigkeit zu reduzieren. Mit einem hohen Maß an Disziplin sowie einem unterstützenden Umfeld, ist das jedoch zu schaffen und erhält die Gesundheit.

Fazit

Eine der dringlichen Herausforderungen in den Unternehmen heute, ist Stress und Burnout bei den Mitarbeitenden vorzubeugen.

Dabei haben wir zu bedenken, dass wir alle individuellen Stressoren haben – was für den einen bereits Stress bedeutet, lässt den anderen noch vollkommen „kalt“. Als Unternehmende sind wir angehalten, Fragen zu stellen, um zu klären, wie es um den selbst auferlegten Druck des Mitarbeitenden geht, welche individuellen Ressourcen vorhanden sind, um mit den Belastungen umzugehen und ob die Mitarbeitenden die Arbeit für sinnvoll empfinden.

 

Gerade das Thema der Sinnhaftigkeit ist bedeutend für den positiven Lebensmotor. Es ist erwiesen, dass wer wenig Einfluss auf die eigenen Tätigkeiten hat und sich oft fremdbestimmt fühlt, seine Arbeitssituation im Allgemeinen als belastend empfindet. Und die Mitarbeitenden, die meinen, lediglich ein Rädchen im Getriebe zu sein, von denen nur eines erwartet wird, und das ist zu funktionieren, empfinden zumeist quälende Selbstzweifel und sind sodann dadurch gestresst.

 

Doch auch der Führungsstil des direkten Vorgesetzten, die Perspektiven am Arbeitsplatz, die Motivation durch das Kollegium und die Identifikation des Mitarbeitenden selbst, gilt es zu hinterfragen – einfach, weil sich immer wieder zeigt, dass diese bei der Stressbewältigung eine mehr oder weniger gewichtige Rolle spielen.

 

Das Menschen Stress in ihrer Arbeit als belastend empfinden, kann jedoch auch mit langfristig gelernten Denkmustern zu tun haben. „Sei perfekt!“ oder auch „Streng dich an!“ sowie „Nur Leistung zählt!“ können solche inneren Antreiber und damit unbewusste Glaubenssätze sein, die allzu oft stressverstärkend wirken. Deswegen ist es wichtig, einen Blick auf die Resilienz eines jeden Mitarbeitenden zu werfen.

Wir wissen, dass wir mit demotivierten oder gar depressiven Mitarbeitenden unsere Unternehmensziele nicht erreichen. Tun wir also etwas, damit es gar nicht erst dazu kommt, dass sich gefährdete Mitarbeitende zurückziehen, ihr Engagement nachlässt, Leistungseinbußen eintreten oder auch Veränderungen im Sozialverhalten erkennbar sind.

Je eher wir aktiv werden, umso größer ist die Chance, die Kosten des Präsentismus klein zu halten. Also jene schleichenden Produktivitätsverluste, die von den Mitarbeitenden verursacht werden, die trotz stressbedingter Krankheit zum Dienst kommen. Und wie das mit denen ist, die gar nicht mehr kommen und die vielleicht auf den nächsten freien Klinikplatz in einer psychosomatischen Klinik warten … tun Sie bitte alles, damit es nicht dazu kommt und bedenken Sie bitte: Sie tun ganz automatisch sodann auch etwas für sich und das sollten Sie sich bitte wert sein!